LESEPROBE

01 | Vom Rand des Feuers

Das Rudel war weitergezogen, doch der junge Wolf blieb zurück. Sein grauer Pelz verschmolz mit den Schatten der Dämmerung. Er hatte die Menschen schon seit Langem beobachtet. In seinen bernsteinfarbenen Augen spiegelte sich das Licht des Feuers wider, das in der Mitte ihrer Behausungen verbrannte. Seine Nase zuckte, während er die Gerüche in sich aufnahm: den Rauch des Feuers, den Duft des gebratenen Fleisches und die eigenartige Witterung der zweibeinigen Kreaturen selbst. Die Kälte drang nicht durch sein Fell, doch sein Magen zog sich vor Hunger zusammen. Der Rest seines Rudels war weitergezogen, als der Winter einbrach und das Wild spärlicher wurde. Nur er war zurückgeblieben, zu schwach nach einer Verletzung am Bein, um mit den anderen Schritt zu halten. Er hatte nur überlebt, weil er sich den Menschen genähert und von ihren Abfällen gezehrt hatte. Sie hatten seine Anwesenheit bemerkt, doch ihn gewähren lassen; vielleicht aus Mitleid, vielleicht aus Neugier, vielleicht, weil sie in ihm keinen Feind sahen.
Die Menschengruppe bewegte sich nach Norden, folgte den großen Tierherden durch die weite, flache Landschaft. Die Eiszeit hatte Europa fest im Griff, verwandelte sie in Tundra und offene Graslandschaften. Dies war eine Zeit der Jäger und Sammler: Menschen, die in kleinen Gemeinschaften über die karge Landschaft zogen, immer auf der Suche nach Nahrung und Schutz. Sie lebten in einfachen Zelten aus Tierhäuten, die sie bei ihren Wanderungen mitnahmen. Ihre Werkzeuge und Waffen bestanden aus Feuerstein, Knochen und Holz; primitiv, aber in geschickten Händen tödlich.
Der Wolf hatte gelernt, ihnen zu folgen und die Reste ihrer Mahlzeiten zu erbeuten, wenn sie ihr Lager abgebrochen hatten. Er war vorsichtiger und weniger aggressiv als andere seiner Art, ein Einzelgänger unter Wölfen. Diese Eigenschaften, die ihn in der Wildnis zum Außenseiter machten, erlaubten ihm jetzt, näher an die Menschen heranzukommen als je ein Wolf zuvor.

 
 
 
 

Ankündigung

 
 
 
 

ÜBER MICH

TOM GLASAUER

Bereits als Jugendlicher schrieb ich Geschichten in ein kleines Schreibheft und merkte früh, dass Erzählen mein Ding ist. Heute entstehen daraus atmosphärische Krimis, historische Kurzgeschichten und fantastische Erzählungen.

 
 
 
 

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